Flussstadt
oder Bregenz neu lesen
Bregenz lässt sich auf verschiedene Arten einteilen, aufteilen und zerteilen, was zu mitunter verwirrenden Ergebnissen führt. Es wäre eine Untersuchung wert, ob dies für andere Städte ähnlicher Größe auch gilt. Im Fall von Bregenz sieht die Lage folgendermaßen aus: Auf der geografischen Ebene ist von den Stadtteilen Bregenz und Fluh die Rede, was etwa der Aufteilung zwischen Berg und Tal entspricht. Auf politischer Ebene gibt es die Katastralgemeinden Bregenz, Rieden und Fluh. Die wiederum zerfallen unter einem historischen Gesichtspunkt betrachtet in die vier Ortsteile Vorkloster, Stadt, Rieden und Fluh, von denen jeder aus noch kleineren Einheiten zusammengesetzt ist, deren Ursprünge von der Antike über das Mittelalter bis in die Neuzeit datiert werden können, manche haben ihre Namen auch erst im 20. Jahrhundert erhalten. Die Stadt- oder Ortsteilbezeichnung Rieden wird dabei in mehreren Zusammenhängen genannt und bedeutet jedes Mal etwas anderes, was seine Verwendung riskant macht. Etwas Ähnliches gilt für das Gebiet von Neu Amerika. Zum einen weiß niemand mit Sicherheit, wie es zu seinem Namen kam, zum anderen ist nicht klar, was genau dazugehört. Auf manchen Plänen gilt zum Beispiel die Achsiedlung, die für uns von besonderem Interesse ist, weil dort zu Ostern 2024 die Lesungen der Bregenzer Literaturtage stattfinden werden, als Teil von Neu Amerika, auf anderen nicht. Genauso unklar bleibt, ob die älteren Randsiedlungen, die zur Zeit des austrofaschistischen Ständestaats in den 1930er-Jahren entlang der Ach errichtet wurden, ebenfalls Achsiedlung heißen dürfen oder als Siedlung-an-der-Ach bezeichnet werden müssten. Oder ist es umgekehrt? Wie auch immer, der Stadtplan von Bregenz ist vor allem dort, wo die Stadt noch relativ jung ist oder erst spät Orte eingemeindet wurden, von gewissen Unbestimmtheiten geprägt. Anlässlich der von uns geplanten Serie von Literaturveranstaltungen, mit der wir von heuer an biennal bis ins Jahr 2032 jeweils an anderen Orten in Erscheinung treten wollen, haben wir uns dazu entschlossen, dieser Verwirrung noch einen Aspekt hinzuzufügen, indem wir für unsere Zwecke eine neue Karte von Bregenz mit fünf neu definierten Stadtteilen erstellt haben. Den ersten dieser neuen Teile haben wir, grob gesprochen, aus Schendlingen und Neu Amerika zusammengebaut und ihn FLUSSSTADT genannt, weil er im Süden bzw. Südwesten von der Bregenzerach abgegrenzt wird. Uns ist zwar bewusst, dass die Ach eher ein breiter Bach als ein Fluss ist und sie diesen Titel auch deshalb nicht tragen dürfte, weil sie nicht schiffbar ist. Allerdings führt sie regelmäßig und zu allen Jahreszeiten Wasser, was wiederum ein wichtiges Charakteristikum für Flüsse ist. Doch diese faktischen Dinge spielten für unsere Entscheidung eine untergeordnete Rolle. Den Begriff FLUSSSTADT haben wir vor allem wegen seiner poetischen Kraft gewählt, die unsere Intention, die vom Zentrum weit entfernten Stadtteile aufzuwerten, auf sinnfällige Art unterstützt.
Dass Bregenz am See liegt, weiß jeder, auch der Pfänder mit seinem Sendemast ist weithin als Markierung sichtbar und stärkt der Stadt gewissermaßen den Rücken. Die Existenz der Bregenzerach hingegen wird leicht übersehen, weil sie nur als ein Hindernis wahrgenommen wird, das überquert bzw. hinter sich gelassen werden muss. Das heißt, die Ach übt im Bewusstsein der meisten Menschen lediglich eine technische Funktion aus, nämlich die einer Grenze, also ähnlich jener des Alpenrheinkanals zwischen der Ill-Mündung und dem Bodensee, nur nicht ganz so brutal.
Die Planungsarbeiten für die Flussregulierungen der Bregenzerach Richtung Mündung haben wir unter anderem Alois Negrelli von Moldelbe zu verdanken, der dieselben Vorarbeiten auch für die Rheinregulierung geleistet hat. Berühmt wurde er allerdings für seinen Beitrag zum Bau des Suezkanals. Von 1826 an lebte er sechs Jahre lang in Bregenz, weil er hier den Posten des „Adjunkt des Kreisingenieurs“ innehatte. Leider hat er sich hier nicht wohl gefühlt, das lässt zumindest die von ihm überlieferte Aussage vermuten, dass er in dieser Stadt nicht einmal begraben sein möchte. Begraben ist er in Wien, in Bregenz gibt es ihm zu Ehren lediglich eine Gedenktafel, die an seine Leistungen im Straßen-, Kirchen- und Flussbau erinnert.
Die Regulierung der Bregenzerach war einerseits ein Segen, denn die Stadt konnte sich wegen der nun ausbleibenden Hochwasserkatastrophen Richtung Süden und Südwesten ausdehnen, wo Land für die Bewirtschaftung und Bebauung freiwurde. Der Nachteil, den man sich durch den Vorteil der Sicherheit einhandelte, war, dass die Ach nicht mehr romantisch an der Stadt entlang mäandrierte, sondern seither relativ sachlich vorbeifließt. Diese Sachlichkeit trägt dazu bei, dass die Existenz der Ach kaum noch Emotionen auslöst, zumindest keine, die vergleichbar wären mit jenen, die ein Blick über den See gewöhnlich bereithält. Und dennoch sollte ihre Wirkung auf das Gemüt der Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt nicht unterschätzt werden. Wer sich darauf einlässt, spürt nämlich, dass vom Zentrum herkommend, spätestens nach dem Über- oder Unterqueren des Bahndamms, ihr Einflussbereich langsam stärker wird. Es wäre interessant, die Menschen, die auf beiden Seiten der Bahnlinie wohnen, nach ihren Präferenzen zu befragen. Vielleicht käme heraus, dass sich jene, die östlich davon leben, instinktiv Richtung Stadtzentrum orientieren, während die auf der anderen Seite ihren inneren Blick unbewusst hin zur Bregenzerach richten. Eine ähnliche Fragestellung könnte auch in anderen Stadtteilen zu überraschenden Ergebnissen führen. Je weiter man sich zum Beispiel von der Innenstadt aus Richtung Altstadt oder Dorf verortet, je mehr könnte die Anziehungskraft des Sees nachlassen und von der des Berges ersetzt werden, auch, weil der Blick auf den See irgendwann nicht mehr möglich ist. Es sind unter anderem diese abstrakten Übergangsphänomene, die wir als Begründung für die Neueinteilung der Stadt und die damit verbundene Neubenennung ihrer Teile ins Feld führen. Das heißt, auch die Grenzen der von uns definierten Stadtteile sind nicht präzise gezogen, was für die FLUSSSTADT ganz besonders gilt. Manche der Begrenzungslinien ergeben sich quasi natürlich, so zum Beispiel die an der Bahnlinie entlang bis zu den Stadtwerken und von dort die Reutegasse folgend bis zur Mehrerauerstraße. Allerdings gehört so der südlich des Funkelbühels und des Klosters Riedenburg gelegene Teil, der zwar ebenfalls am Fluss liegt, nicht dazu. Diese Abspaltung ist insofern begründbar, als hier die Trennung durch die Bahntrasse atmosphärisch gesehen schwerer wiegt als die Verbindung durch das Gewässer. Etwas Ähnliches gilt auf der nördlichen Seite für das Kloster Mehrerau, das unserer Ansicht nach eher Richtung See und Stadtzentrum ausgerichtet ist als Richtung Bregenzerach und deshalb auf unserer Karte zur SEESTADT gehört, womit wir allerdings nicht das meinen, was in Bregenz seit vielen Jahren Objekt verschiedener, bis heute nicht realisierter städtebaulicher Planungsfantasien ist. Nach dem Kloster Mehrerau ziehen wir die Grenze schließlich zum Seeufer hin, das hier seine außergewöhnliche Gestalt und seinen Artenreichtum nicht nur dem See, sondern immer noch dem ehemals viel größeren Delta des Flusses zu verdanken hat. Nach ein paarhundert Metern im Auwald flussaufwärts wird der Kreis bei der Fahrradbrücke, die nach Hard führt und bei der anschließenden Achsiedlung geschlossen, die uns, wie gesagt, als Zentrum für unsere Veranstaltung dient.
Die Entscheidung zum Bau der Siedlung, ein für Vorarlberg riesiges Projekt mit rund 50 schachbrettartig angeordneten Gebäuden, fiel 1970 und wurde zwischen 1974 und 1982 in mehreren Etappen umgesetzt. Am Ende gab es 839 neue, erschwingliche und moderne Wohnungen für rund 2.500 Bregenzer Bürger und Bürgerinnen. Der Entwurf stammte von den Vorarlberger Architekten Jakob Albrecht und Gunther Wratzfeld, sowie dem für seine Raumstadtkonzepte bekannten deutschen Architekten Eckehard Schulze-Fielitz, der sogar zu diesem Zweck nach Vorarlberg übersiedelte und sich hier, im Unterschied zu Alois Negrelli sehr wohl fühlte. Wie nicht anders zu erwarten, stieß das Vorhaben schnell auf Kritik. Schon 1976 wurde die Anlage in einem Artikel in der Neuen Vorarlberger Tageszeitung als der zukünftige „Slum“ von Bregenz bezeichnet. Die Menschen, die bereits dort lebten, protestierten und gründeten 1977 die Aktionsgemeinschaft Achsiedlung, die sich von da an aktiv um die Organisation von Freizeitaktivitäten kümmerte. Dennoch kommt es in einem derart dicht besiedelten Quartier naturgemäß zu Spannungen, vor allem zu „Nutzungskonflikten im Außenbereich“ wie es in der diesbezüglichen Fachsprache heißt. Doch die Achsiedlung ist weit besser als ihr Ruf, das betonen vor allem Menschen, die dort wohnen, immer wieder. Auch, was Fragen der Integration angeht, gibt es zumindest keine größeren Probleme als in anderen Siedlungen, und das, obwohl dort mehr als 50 verschiedene Sprachen gesprochen werden.
Für unsere Veranstaltung, deren Austragungsort und Thema die FLUSSSTADT ist, haben wir nicht nur deshalb die Achsiedlung gewählt, weil wir glauben, dass das kulturelle Geschehen in Bregenz insgesamt eine zumindest temporäre Verlagerung an die Peripherie vertragen kann, sondern auch, weil sie die Bevölkerungsstruktur der Stadt realistischer abbildet als die meisten anderen Siedlungsräume. Außerdem bietet sie, vor allem seit der Sanierung des Uferbereichs, den unmittelbarsten Zugang zum Gewässer und bietet damit das anschaulichste Beispiel für unsere Idee von der Stadt am Fluss.
Wolfgang Mörth